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Ideen

Uns allen ist klar, dass wir zu einer einzigen großen Familie gehören...

L. L. Zamenhof

Der Schöpfer der Lingvo Internacia, Ludwig Zamenhof, betrachtete Esperanto als den ersten Schritt zum Frieden zwischen den Völkern in der ganzen Welt. Er selbst bekräftigte, dass die ganze Sache Esperanto nur Teil der gemeinschaftlichen Idee ist, die er zunächst Hillelismus und später Homaranismus nannte. Das Ziel des Projektes war die Vereinigung der Menschheit, und dafür ist es zunächst nötig, ein neutral-menschliches Volk zu bilden, dessen Angehörige sich nur nach geografischen und politischen Grenzen aufteilen, aber nicht nach ihren Sprachen und Religionen.

Russische Ausgabe von "Hilelismo"

Im April 1901 schlug Zamenhof ein Projekt zur Lösung der Judenfrage vor. Das Projekt erhielt den Namen Hillelismus. Nachdem er die zionistische Lösung schon 1886 aufgegeben hatte, blieb Zamenhof seiner ursprünglichen ethnischen Gruppe dennoch treu, deren Schicksal im östlichen Europa immer aussichtsloser wurde. Die Zusammenfassung der Idee des Hillelismus findet sich in dem Satz „Was du nicht selbst erfahren willst, tu keinen andern an“. Jeder sollte sich als nur ein Teil des Ganzen betrachten. Trotzdem fand die Idee nicht viele Unterstützer. Vielen gefiel sie nicht und man kritisierte sie für ihren zu großen Idealismus.

Als Zamenhof mit dem Hillelismus auf Widerstand gestoßen war, zog er sich zwischenzeitlich zurück, um einige Jahre später mit dem selben Projekt wieder aufzutauchen. Der russisch-japanische Krieg, begonnen im Jahr 1904, und später die erste russische Revolution zeigten Zamenhof, dass eine gemeinsame Sprache nur ein Anfang ist, der es ermöglicht, effektiv miteinander zu sprechen und seine Meinung darzulegen. Eine internationale Sprache ist ein gutes Mittel um viele Probleme zu lösen. Trotzdem veranlassten der Krieg und die Revolution Zamenhof zum folgenden, zweiten Schritt, um Frieden unter den Völkern zu erreichen.
Sie überzeugten ihn, dass er zu den Ideen des Hillelismus zurückkehren muss, wenn auch mit der Einsicht, dass dieser eine große Überarbeitung benötigt. So entschloss er sich, den Hillelismus nicht nur für Juden vorzuschlagen.

Ausgabe von "Homaranismo" von 1913

In der Januar-Ausgabe von Ruslanda Esperantisto (1906) veröffentlichte er anonym seine Doktrin unter dem Titel "Dogmen des Hillelismus" mit parallelen Texten auf Russisch und Esperanto. Zamenhof erkannte schnell, dass der Name der Doktrin zu jüdisch war und das Vorwort zu russisch, und im März erschien in Sankt Petersburg eine Broschüre mit dem Namen Homaranismo. Er wies in dem neuen Vorwort darauf hin, dass der Hillelismus nur eine Gruppe von Menschen betrifft, während der Homaranismus alle Völker und Religionen betrifft. Es enthielt eine neue Unterweisung zu den Beziehungen zwischen Heimat, Volk und Menschheit. Die Überzeugungen wurden durch eine Erklärung mit 10 Paragraphen ausformuliert. Während der Zionismus romantische Paradigmen mit dem Ziel ausnutzte, dass man über Juden mit dem gleichen Respekt spricht wie über Franzosen, Deutsche, Russen usw., plädierte Zamenhof dafür, dass man gänzlich vergisst, dass es Juden, Franzosen, Deutsche, Russen usw. gibt. Er rief dazu auf, uns nicht als Teil von irgendeiner Religion, Sprache oder eines Volkes zu betrachten, sondern als Menschen.

Die ersten vier Dogmen, die prinzipiellsten und generellsten:

  1. Ich bin ein Mensch, und für mich existieren nur rein menschliche Ideale; jegliche Volks- und nationalen Ideale und Bestrebungen betrachte ich nur als gruppenbezogenen Egoismus und Menschenhass, welche früher oder später verschwinden müssen und deren Verschwinden ich meinen Kräften nach beschleunigen muss.
  2. Ich glaube, dass alle Völker gleichwertig sind und ich beurteile jeden Menschen nur nach seinem persönlichen Wert und seinem Handeln, nicht aber seiner Herkunft nach. Jegliche Beleidigung oder Verfolgung eines Menschen auf Grund dessen, dass er in einem anderen Volk geboren wurde, mit einer anderen Sprache oder Religion als ich, betrachte ich als Barbarei.
  3. Ich glaube, ein beliebiges Land gehört nicht zu diesem oder jenem Volk, sondern vollkommen gleichberechtigt zu allen seinen Einwohnern, welche Sprache oder Religion sie auch haben; die Vermischung der Interessen eines Landes mit den Interessen dieses oder jenes Volkes, der Sprache oder Religion betrachte ich als Überbleibsel aus den barbarischen Zeiten, als nur das Recht von Faust und Schwert existierte.
  4. Ich glaube, dass jeder Mensch in seinem familiären Umfeld das volle, natürliche und unbestreitbare Recht besitzt, die Sprache oder den Dialekt zu sprechen, den er will und sich frei zu einer Religion zu bekennen, aber bei der Kommunikation mit Menschen anderer Herkunft muss er, soweit möglich, eine neutral-menschliche Sprache benutzen und gemäß den Prinzipien einer neutral-menschlichen Religion leben. Jede Bestrebung eines Menschen, anderen Menschen seine Sprache oder Religion aufzuzwingen, betrachte ich als Barbarei.

Zamenhof hatte vor, das Projekt Homaranismus beim Kongress in Genf (1906) einzuführen und dort die erste Homaranismus-Gemeinschaft zu gründen. Dennoch überzeugte man ihn, den zweiten Teil der Rede, in dem er die interne Idee des Esperanto mit dem Homaranismus gleichsetzte, nicht vorzulesen. Zamenhof gab nach. Er kam zu der Einsicht, dass die Esperantisten, trotz der Euphorie in Boulogne-sur-Mer, nicht bereit waren, den Homaranismus und die "Wiedervereinigung der Menschheit" zu akzeptieren. Selbst seine engsten Vertrauten unter den Esperantisten waren bestrebt ihn zu überzeugen, Esperanto nicht mit einer religiösen Doktrin zu verbinden. Daher vermied er es einige Zeit lang, den Homaranismus öffentlich zu erwähnen und zog es vor, von der eher ungenauen "internen Idee" zu sprechen, gewissermaßen als Ersatz für den Homaranismus. Im Jahr 1912 definierte Zamenhof die interne Idee folgendermaßen:

Die interne Idee des Esperanto, die in keinster Weise verpflichtend für irgendeinen Esperantisten ist, die aber, wie ihr wisst, in den Esperanto-Kongressen voll gegenwärtig ist und immer gegenwärtig sein muss, lautet: auf einem neutralen Sprachenfundament die Mauern zwischen den Völkern einreißen und die Menschen einander näher bringen, sodass jeder von ihnen in seinem Nächsten nur einen Menschen und Bruder sehe. Alles, was über diese interne Idee des Esperanto hinausgeht, ist Privatsache, die möglicherweise auf ihr basiert, aber niemals als identisch mit ihr angesehen werden darf.

Zamenhof, geboren und aufgewachsen im russischen Reich mit seinen vielen Völkern, hatte nicht beachtet, dass in Deutschland, Frankreich und in vielen anderen westeuropäischen Ländern Sprachenvielfalt kaum existierte und dass die Religion dort nicht mehr die wichtigste Rolle einnahm. Da er Sprache und Religion zu große Aufmerksamkeit schenkte, hatte er kaum die politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Faktoren beachtet. Seiner Meinung nach sind die Gründe der Getrenntheit und des Hasses zwischen den Völkern nicht politischer, wirtschaftlicher, geografischer, anatomischer oder geistiger Natur, noch betreffen sie die Herkunft. Der Hauptgrund ist die Ungleichheit der Sprachen und Religionen,
und daher wird "die Getrenntheit und der Hass zwischen den Völkern nur dann vollständig aus der Menschheit verschwinden, wenn die gesamte Menschheit nur eine Sprache und Religion haben wird."

Nachdem er mit Esperanto die Art und Weise gezeigt hatte, die sprachliche Trennung zu überwinden, präsentierte Zamenhof nun die Lösung der religiösen Trennung. Im Jahr 1913 schlug er vor, einen Kongress für neutral-menschliche Religion in Paris zu organisieren, verbunden mit dem 10. Universalen Esperanto-Kongress (1914). Ungewöhnlich war seine Idee: er wollte nicht zu denen sprechen, die glauben, dass ihre Religion die einzig wahre und von Gott gegeben ist, sondern zu den Freidenkern, die die Religionen ihrer Vorfahren abgelegt hatten. Von den vier Thesen seiner Erklärung folgten drei mehr oder weniger dem religiösen Dogma des Homaranismus, die vierte war organisatorischer Natur.

Der Aufruf an die Diplomaten Nach dem großen Krieg

Gegen Ende des Jahres 1914 verfasste Zamenhof seinen Aufruf "Nach dem großen Krieg" und sandte ihn an einige Esperanto-Redaktionen, damit sie ihn auf Esperanto und in den Landessprachen veröffentlichen. Er sah vorher, dass die Diplomaten nach dem Krieg die Karte Europas neu aufteilen werden und schlug vor, die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen. Er sah ein, dass das nicht eintreten wird und bat darum, wenigstens in allen europäischen Reichen folgendes Prinzip auszurufen und zu garantieren: "Jedes Land gehört moralisch und materiell gleichbereichtigt allen seinen Söhnen und Töchtern."

Zamenhof hörte nicht auf, an seinem Projekt Homaranismus zu arbeiten und zwei Monate vor seinem Tod beendete er dessen letzte Version. Auch diese besteht aus dem Vorwort und der Erklärung. Das Vorwort beinhaltet eine klare Unterscheidung zwischen Esperantismus und Homaranismus und eine gänzlich neue Erklärung der Doktrin:

Unter dem Namen "Homaranismus" (...) möchte ich das Streben nach Menschlichkeit verstehen, die Beseitigung des Hasses und der Ungerechtigkeit zwischen den Völkern, und eine solche Lebensweise, die nach und nach, nicht theoretisch, sondern praktisch zur geistigen Vereinigung der Menschheit führen könnte.

Es ist bemerkenswert, dass es nicht mehr darum geht, dass "die Menschen irgendwann zu einem neutral-menschlichen Volk verschmelzen", was noch die erste Ausgabe des Homaranismus vorhergesehen hat. Jetzt geht es um das Streben nach der "geistigen Vereinigung der Menschheit".

Wenn man die vier Versionen (Hilelismo 1906, Homaranismo 1906, Homaranismo 1913, Homaranismo 1917) analysiert, so bemerkt man, dass Zamenhof der Sprachenproblematik immer weniger Aufmerksamkeit schenkte. Esperanto wird 1913 und 1917 überhaupt nicht erwähnt und 1917 fehlt eine Erwähnung der neutral-menschlichen Sprache sogar gänzlich. Seine Zielgruppe hatte sich geändert. Der erste universelle Vorschlag (Hilelismo 1906) hatte noch die Interessen der Juden Russlands berücksichtigt, doch diese Berücksichtigung verschwand später. Zamenhof beabsichtigte, die letzte Version des Homaranismus nicht in Esperantujo, sondern in der ganzen Welt zu verbreiten, und das nicht mit Esperanto, sondern in den größten Nationalsprachen.

Das Streben nach Menschlichkeit, nach der Beseitigung des Hasses zwischen den Völkern und nach der geistigen Vereinigung der Menschheit ist in der Tat eine noch generellere Sache als die sprachliche und religiöse Vereinigung. Und das Hauptprinzip des Homaranismus (in der letzten Version: "Handle anderen gegenüber so, wie du wünschtest, dass sie dir gegenüber handeln") ist kein
religiöses, sondern ein moralisches. Das Streben nach Menschlichkeit und nach der praktischen Umsetzung des genannten Prinzips (auch nach der "Toleranz", implizit im Homaranismus enthalten, aber nicht direkt benannt) könnte nicht so sehr Esperantisten und religiöse Menschen für den Homaranismus begeistern, wie allerdings die normalen "Progressiven", für die die sprachlichen und religiösen Probleme nicht die wichtigsten sind.

Einige Wochen vor seinem Tod begann er seinen letzten Aufsatz Über Gott und über die Unsterblichkeit zu verfassen, welchen er für sehr wichtig hielt, obwohl er bereits wusste, dass seine plötzliche Gläubigkeit viel Kritik hervorrufen würde. Es blieb der letzte (und nicht vollendete) aus seinen ideologischen Schriften. Zamenhof schrieb darin, dass er "viel meditierte und verschiedene wissenschaftliche und philosophische Werke las", man weiß aber nicht, um welche konkreten Werke es sich dabei handelt.

Zamenhof starb, aber es blieben seine Kinder (alle von den Nazis im zweiten Weltkrieg ermordet), seine Sprache Esperanto, die er der Welt schenkte, seine Übersetzungen und seine Ideen, die auch heute diejenigen inspirieren, die sich nicht nur als Angehörige ihres Volkes oder ihrer Religion ansehen, sondern auch als "Homaranoj" - Angehörige der Menschheit, die an deren Einheit in Vielfalt glauben.

Quellen